Theater trotz(t) Corona
Mit „Respekt Coaches“ die eigene Stimme finden
Mit Antisemitismus, Rassismus und der Frage nach der Verantwortung des Einzelnen setzen sich Bremer Schülerinnen und Schüler im Theaterfilmprojekt „Andorra“ auseinander. Mit diesem und anderen Projekten unterstützt Silvia Walter vom Bundesprogramm Respekt Coaches die Jugendlichen dabei, ihre eigene Stimme zu finden.
„Ich bin nicht schuldig!“ Da sind sich die Einwohnerinnen und Einwohner des fiktiven Lands Andorra aus Max Frischs gleichnamigem Stück einig. Dabei hat jede und jeder von ihnen im Laufe des Stückes den jungen Andri im Stich gelassen, den alle für einen Juden halten. Niemand stellte sich an die Seite des Jungen, der schließlich von Anwohnern des Nachbarlands aus antisemitischen Motiven ermordet wurde. Doch kann man sich so leicht der Verantwortung entziehen? Wo gibt es in unserem Alltag Vorurteile, Hass und Rassismus? Und was kann ich dagegen tun? Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler des 9. Jahrgangs der Oberschule am Waller Ring in Bremen. „Andorra – Wie würdest DU entscheiden?“ lautet der Titel des Theaterstücks, das sie in diesem Schuljahr gemeinsam entwickeln und mit dem sie auch die Zuschauenden zum Nachdenken anregen wollen.
Das Projekt wird seit drei Jahren von Silvia Walter vom Jugendmigrationsdienst (JMD) Bremen der AWO im Rahmen des Bundesprogramms Respekt Coaches begleitet. Sie setzt sich als Respekt Coach an der Schule für ein gutes Miteinander, Toleranz und den Abbau von Vorurteilen ein. Das jährliche Theaterprojekt ist eine von vielen Aktivitäten der Sozialpädagogin und fest in den Lehrplan der 9. Klassen integriert. Pro Woche steht eine Doppelstunde zur Verfügung, in der die 87 Schülerinnen und Schüler Szenen proben, Kulissen bauen, Kostüme schneidern oder Plakate designen. „Der gesamte Jahrgang entwickelt mit Musik, Bühnenbild, Kostüm, Marketing und Schauspiel ein eigenes Bühnenwerk“, erzählt Silvia Walter begeistert. „Alle Schülerinnen und Schüler können eigene Ideen selbstbestimmt und kreativ verwirklichen und Neues ausprobieren.“ Gleichzeitig hinterfragen sie rassistische Denkweisen und beschäftigen sich mit Gruppendynamiken, die zu Hass und Diskriminierung führen. „Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass Vorurteile existieren und dass sie viel bewirken können. Sie lernen, für Vielfalt einzustehen und eine Haltung dazu zu haben.“
Herausfinden, wo man steht – auf und jenseits der Bühne
Doch wie findet man die eigene Stimme und den Mut, sie zu erheben? Das erproben Joseph, Jamika, Sally und Vivienne, alle 15 Jahre alt, seit einigen Monaten in der Schauspielgruppe. Während der Schulschließungen besprachen sie Stück und Figuren per Videokonferenz, lasen Szenen mit verteilten Rollen und probierten Betonungen aus. Jetzt ist März und sie dürfen endlich wieder in der Schulaula zusammenkommen. Sie genießen es, mit vollem Körpereinsatz auszutesten, wie sich eine Figur bewegt und was es bedeutet, von unterschiedlichen Positionen im Raum aus zu sprechen. Joseph ist eher der stille Typ, aber heute hat er am Rand der Bühne nahe den Lautsprechern einen Platz gefunden, an dem er sich wohlfühlt und gut gehört wird. Die Freundinnen Sally und Jamika haben weiter an dem Figurenduo aus verwirrtem Doktor und kluger Assistentin gearbeitet, das sie bereits über die letzten Wochen entwickelt haben – eine von Max Frisch so nicht vorgesehene Konstellation, die für die Gruppe und das quirlige Zweiergespann aber stimmig ist. Und Vivienne hat die Rolle des Vaters für sich entdeckt. „Heute haben wir ihn dann in Patentante umbenannt und damit rumexperimentiert“, erzählt sie. „Ich musste mal hin- und herlaufen, hinter der Bühne oder hinterm Vorhang sein, um zu sehen, was am besten passt.“
Die Freiheit, sich auszuprobieren, Vorschläge einzubringen und mit den anderen zu diskutieren, bis sie die eigene Rolle gefunden und mit Leben gefüllt haben, motiviert die Jugendlichen. Es zeigt ihnen, dass ihre Meinung, ihre Gedanken und Gefühle von Bedeutung sind. „Man fühlt sich freier als im normalen Unterricht“, erklärt Sally. „Man muss nicht Aufgaben erledigen, sondern kann seine eigenen Ideen mit reinbringen.“ Sally will Journalistin werden. Auch wenn ihr Berufswunsch nichts mit Theater zu tun hat, merkt sie, dass sie von der Arbeit an den Szenen profitiert. „Man wird selbstbewusster, das kann weiterhelfen. Weil ich mich traue, meine Ideen zu sagen.“ Andere entdecken in der Holz-, Kostüm- oder Medienwerkstatt konkrete Berufe für sich. „Architekt, Mediendesignerin, Schneiderin – es wurden schon viele Ideen wachgerüttelt“, so Silvia Walter.
Kreativ durch die Pandemie mit einem Mix aus Film und Theater
Bei ihren Theaterprojekten arbeiten Silvia Walter und Lars Trimborn, der Koordinator kultureller Projekte und Musiklehrer der Schule, ein Team aus Lehrkräften sowie die Kulturinstitution OpusEinhundert zusammen: „Alexander Hauer und Linda Baumert von OpusEinhundert sind im Bremer Westen verankert und sehr engagiert.“ Nicht alle Stücke sind politisch: Das erste, das sie 2018/19 gemeinsam inszenierten, war Shakespeares „Sommernachtstraum“. Es folgte das wohl berühmteste Stück des britischen Dramatikers, das der damalige 9. Jahrgang kurzerhand in „Romeo und Julia in Coronia“ umtaufte und in ein von der Pandemie erfasstes Verona versetzte. Im Zuge der Kontaktbeschränkungen entstand die Idee, einen Filmemacher einzubeziehen, sodass ein Mix aus Film und Bühnenperformance entstand. Mit seiner kreativen Herangehensweise gewann das Stück den 1. Preis beim JMD-Wettbewerb #coronamachtkreativ 2020. Das Prinzip des Medienmixes aus Theater, Musik und Film behalten sie auch im aktuellen Projekt bei.
Die Jugendlichen komponieren die Musik für das Stück und spielen sie selbst ein.
Bühne, Garten, Grundgesetz: Bausteine im Respekt-Coaches-Mix
Die Theaterprojekte sind ein Baustein unter vielen, mit denen Silvia Walter an der Schule arbeitet. Seit Herbst 2020 wirkt sie an der Entstehung und Weiterführung eines Schulgartens mit. Außerdem rief sie zusammen mit dem Jahrgangsleiter Markus Delzer das Projekt „DWDMIU – Eine Kampagne gegen Hass und für ein Miteinander“ ins Leben, sprich: „dewedemiju“. Der Name leitet sich ab aus den Anfangsbuchstaben von „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dem berühmten Satz aus dem 1. Artikel des Grundgesetzes. DWDMIU wurde 2019 mit dem Deutschen Kinder- und Jugendpreis und dem Europa Park Junior Award ausgezeichnet. Über die Jahre greifen die verschiedenen Projekte ineinander und wirken im Bewusstsein der Jugendlichen nach. Den Begriff der Menschenwürde, mit dem sich das Projekt DWDMIU beschäftigt, brachten sie bei der Arbeit an „Andorra“ wieder ein.
Im Sommer will der Jahrgang sein Werk am liebsten open air oder als Livestream aufführen. Silvia Walter und die Schüler und Schülerinnen hoffen, dass sie so viele wie möglich mit ihrem Stück erreichen und zum Nachdenken anregen können. Damit künftig noch mehr ihre Stimme erheben – gegen Rassismus und Ausgrenzung und für das, was sie bewegt.
Servicebüro Jugendmigrationsdienste / Bilder und Video: JMD Bremen (Stadtgebiet), rcschreier.de
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